Der Bildhauer Giuseppe Bergomi
Der Bildhauer Giuseppe Bergomi
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Giuseppe Bergomi: Skulptur als Erzählung des Alltags und des gelebten Lebens

Auf dieser Reise zwischen Kunst und Landschaft begegnen wir Giuseppe Bergomi, einem Bildhauer aus Brescia, der den Alltag in Form, Material und Skulptur verwandelt hat. Seine Werke, hauptsächlich aus Terrakotta oder Bronze, sind von Zeit und Stille durchdrungen und eng mit vertrauten Gesten und gelebter Erfahrung verbunden. Ab dem 10. Juli ist er in Bolgheri, Castagneto Carducci und Casale Marittimo mit seiner Ausstellung Arte diffusa sulla costa toscana zu sehen.
Manchmal genügt es, eine Schwelle zu überschreiten, um zu spüren, dass man in eine andere Welt eintritt. Nicht weil sie fern von unserer ist, sondern weil sie unsere mit einem anderen Blick widerspiegelt. Giuseppe Bergomi in seinem Haus-Atelier in den Hügeln der Franciacorta zu besuchen, ist wie der Eintritt in eine parallele Dimension, in der Natur, Erinnerung und Kunst miteinander verwoben sind.

An einem warmen, hellen Frühlingsmorgen fahren wir durch die ordentlichen Rebzeilen der Franciacorta hinauf nach Ome, einer kleinen Hügellandschaft in der Provinz Brescia. Hier lebt und arbeitet Giuseppe Bergomi, in einem Haus, das im Grünen liegt, zwischen Natur und Kunst schwebend. Es sind Giuseppe und seine Frau Alma, die uns empfangen. Wir betreten ihre Welt, vorbei an einem Garten, der wie ein lebendiges Kunstwerk wirkt und den wir später noch durchqueren werden: Zypressen, japanische Ahorne, Buchen, blühende Rosen, ein kleiner Teich mit den ersten Seerosen, schwarzer Bambus und eine Vielzahl von Pflanzen, die Geschichten erzählen. Nicht nur von der Natur, sondern auch von jenen, die sie mit Geduld und Liebe gepflanzt, gepflegt und erlebt haben. Eine Landschaft, die von Erinnerung spricht, von geteilten Augenblicken, von Zeit, die sich in den Dingen ablagert. Ein Ort, der zugleich Rückzugsort, Atelier und persönliches Museum ist. Giuseppe kommt uns entgegen, lädt uns ein hereinzukommen, stellt uns Alma vor, und gemeinsam bieten sie uns einen Kaffee an. Ohne Umschweife, verzaubert und sofort gefesselt von Colazione a letto, das den Raum dominiert, beginnen wir zu sprechen. Über Kunst, über Raum, über Material, über Zeit und über das Leben.

Colazione a Letto von Giuseppe Bergomi 2023-2024, Terrakotta
Colazione a letto, 2023-2024, Terrakotta
Piccolo busto di Valentina con la spugna von Giuseppe Bergomi, 2024, Terrakotta
Piccolo busto di Valentina con la spugna, 2024, Terrakotta

Mit Giuseppe Bergomi zu sprechen ist eine Erfahrung, die einen langsam in ihren Bann zieht. Seine Art zu denken, die Welt zu beobachten und Worte zu finden, ist faszinierend. Geboren 1953 in Brescia, gilt er als eine der tiefgründigsten und originellsten Stimmen der zeitgenössischen italienischen Kunst. Nach seinem Studium an der Accademia di Brera begann er seine künstlerische Laufbahn als hyperrealistischer Maler, fand aber erst in der Bildhauerei seine wahre Ausdruckssprache, eine Sprache aus Material, Stille und Präsenz. Seine Werke, meist aus Terrakotta oder Bronze, erforschen die menschliche Figur als Ort von Erinnerung und Wahrheit, und verweben Alltag und Archetypen, Intimität und Zeit.

Im Laufe seiner Karriere stellte er in renommierten Institutionen in Italien und international aus, nahm an der Biennale von Venedig, der Quadriennale in Rom sowie an zahlreichen Einzel, und Gruppenausstellungen teil. Seine Skulpturen befinden sich in öffentlichen und privaten Sammlungen, von Mailand bis Nagoya, von Monte Carlo bis Sizilien.

Von der Malerei zur Skulptur: Die Geburt einer eigenen Sprache

„Es begann alles aus einem Unbehagen heraus. Ein inneres Problem, das gelöst werden musste.“ So beschreibt Giuseppe Bergomi den Moment, in dem ihm klar wurde, dass die Skulptur seine Sprache werden würde. Nach einer Ausbildung in der Malerei erkennt er, dass ihm die Malerei, so wie sie sich in seinem Schaffen entwickelt hatte, nicht mehr genügt. Die Bilder, die aus der Fotografie entstanden, mögen technisch gelungen gewesen sein, aber sie vermittelten ihm nicht die Tiefe und Wahrheit, nach der er suchte. „Das fotografische Bild, schön oder nicht, hatte immer eine eigene stimmige Sprache. Mein Gemälde, das daraus entstand, leider nicht. Es schien mir immer, als fehle etwas.“

Die Wende kam fast zufällig, bei einem Besuch der Ausstellung Réalismes 1919–1939 im Centre Pompidou. Unter all den Gemälden, die ihn beeindruckten und von denen er sich neue Anregungen erhoffte, waren es stattdessen zwei kleine polychrome Terrakottaskulpturen, die ihm den Weg wiesen: Porträt der Ehefrau des Künstlers von Otto Gutfreund und Mädchen mit Absinth von Bedřich Stefan, zwei bedeutende tschechoslowakische Bildhauer jener Zeit.

In diesem Moment stellt er sich vor, eines seiner großformatigen Gemälde in eine Skulptur zu verwandeln. Zurück in Brescia kauft er Ton und bittet seinen Freund, den Bildhauer Tullio Cattaneo, um Hilfe. „Ich wollte mit Hilfe der Skulptur dem fotografischen Einfluss entkommen – um nach einer kurzen Pause zur Malerei zurückzukehren. Aber ich habe nie wieder aufgehört.“

Er hat sich nie als „akademischen“ Bildhauer betrachtet. Sein Weg entspringt dem inneren Drang, einer Intuition Gestalt zu geben, das sichtbar zu machen, was sonst verborgen, unausgesprochen, zurückgehalten bleibt. Grundlage ist für ihn das Zeichnen, als Fähigkeit, die Realität zu sehen und zu verstehen. Doch es ist das dreidimensionale Material, in dem alles Form annimmt: Masse, Gewicht und Zeit.

Giuseppe Bergomi mit seiner Skulptur Ilaria come Venere vincitrice, 2021, Terrakotta
Giuseppe Bergomi mit seiner Skulptur Ilaria come Venere vincitrice, 2021, Terrakotta

Die menschliche Figur und der Alltag als Sprache der Seele

Für Bergomi ist der menschliche Körper „ein unendliches Buch“. Er soll nicht erzählt, sondern gehört werden. Niemals provokativ oder idealisiert, ist er eine Form des sprechenden Schweigens, eine Erscheinung, die Geschichte, Zeit und Intimität verdichtet. Kein Zufall also, dass viele seiner Werke aus alltäglichen, einfachen, familiären Momenten hervorgehen. Wie im Fall von Colazione a letto, einer der intimsten Skulpturen seiner jüngsten Schaffensphase: ein großes Bett aus Terrakotta, auf dem der Künstler selbst, seine Frau, eine seiner beiden Töchter und seine Enkelinnen dargestellt sind. Eine häusliche Szene, eingefangen im Augenblick, in dem „nichts geschieht“, und gerade deshalb von universeller Bedeutung.

Es sind diese kleinen Gesten, in denen seine Auseinandersetzung mit der Zeit stattfindet – nicht mit der historischen oder chronologischen, sondern mit der inneren, erlebten, bewahrten Zeit. Jede Figur, selbst in der Ruhe, scheint eine Spannung in sich zu tragen. Sie schaut den Betrachter nicht an, bietet sich keiner Geschichte an. Sie ist einfach da.

„Meine Skulpturen wollen nichts erklären. Sie wollen einfach da sein.“

Keine Botschaft, die aufgezwungen wird, keine Gebrauchsanweisung: Der Blick des Betrachters, mit seinem eigenen Erleben und dem, was er liebt, wird die Bedeutung erschaffen. Und genau in diesem „Da-Sein“ offenbart sich Bergomis Vorstellung von Wahrheit: eine stille Präsenz, die sich nicht aufdrängt, aber bleibt.

Giuseppe Bergomi bei der Erläuterung einer seiner Skulpturen in seinem Haus in Ome
Giuseppe Bergomi in seinem Haus in Ome
Nudo nello studio von Giuseppe Bergomi, 2023, Terrakotta, Aluminium und emailliertes Holz
Nudo nello studio, 2023, Terrakotta, Aluminium und emailliertes Holz

Material und Entscheidungen: Jedes Werk hat seinen eigenen Körper

„Jede Skulptur hat ihr eigenes Material.“ Bronze oder Terrakotta sind niemals dekorative Entscheidungen, sondern tragen den Sinn in sich. Der Künstler beginnt nie beim Material: Es ist das Werk selbst, das es verlangt. Wenn ein Werk aus Zerbrechlichkeit, häuslichem Leben, alltäglicher Präsenz entsteht, wie Colazione a letto, dann kann es nur in Terrakotta entstehen. „Es in Bronze oder Marmor zu machen, wäre eine Lüge gewesen. Nur der Ton konnte es so ausdrücken, wie es war.“ Es geht nicht nur um die Haptik: Die Sprache des Werks selbst verändert sich je nach Material. Bronze bringt Feierlichkeit, Dauerhaftigkeit, Distanz. Ton hingegen bewahrt die Zerbrechlichkeit, die Überraschung der Geste, die Vergänglichkeit der Zeit.

Und doch, trotz technischer Schwierigkeiten wie Schrumpfung des Tons, riskantem Brennen, strukturellen Schwächen – entscheidet sich Bergomi immer wieder bewusst für dieses Material. Wie jemand, der akzeptiert, dass ein Werk nur eine mögliche Form haben kann. Denn letztlich hat auch das Material, wie der Körper, eine Seele. Und die will respektiert werden.

Raum

Für Bergomi ist der Ort niemals bloß ein dekorativer Vorwand. Oft ist er nicht einmal der Ausgangspunkt. „Selten ist es der Raum, der ein Werk entstehen lässt“, erklärt er uns. „Vielmehr beginnt man, wenn man für einen bestimmten Kontext etwas entwerfen soll, mit einem Projekt, das aus einer Begegnung hervorgeht: zwischen dem, was man tun möchte, und dem, was der Raum aufnehmen kann.“

Dennoch bleibt der Raum „das vorrangige Element der Skulptur“. Ein Werk muss, so sagt er, „in einem Raum, in einem Licht“ platziert werden. Diese Einsicht hat sich bei seinem ersten öffentlichen Monument in Japan gefestigt, eine Erfahrung, die ihn über das Verhältnis zwischen Skulptur und Architektur nachdenken ließ. „Um menschliche Figuren mit monumentaler Architektur in Dialog zu bringen“, erzählt er, „musste ich Strukturen entwerfen, die in der Lage waren, Raum zu fassen, ihn zu formen. Nur so konnte ich Figuren, die gerade einmal 60 cm hoch waren, platzieren, ohne dass sie verloren gingen.“ Neben dieser äußeren Dimension steht die innere: Für Bergomi ist Skulptur nicht nur im Raum positioniert, sie kann selbst Raum werden, und erfordert dann eine intimere, konzentriertere Art der Betrachtung. Es ist der „Raum der Reflexion“, der das Werk in Dialog mit der Wahrnehmung des Betrachters bringt.

Uomini, delfini, parallelepipedi von Giuseppe Bergomi, Bronze, 2001, Aquarium von Nagoya, Japan
Uomini, delfini, parallelepipedi, 2001, Bronze, Aquarium von Nagoya, Japan

Arte diffusa sulla costa toscana

Vom 10. Juli bis zum 3. November ist Giuseppe Bergomi Protagonist der Ausstellung Arte diffusa sulla costa toscana, eines unter freiem Himmel konzipierten Ausstellungsprojekts, das die Dörfer Bolgheri, Castagneto Carducci und Casale Marittimo einbezieht. Kuratiert von Paola Maria Formenti, bringt die Initiative Kunst und Landschaft in einen fruchtbaren Dialog. Unter den gezeigten Werken wurden drei eigens für diesen Anlass geschaffen: ortsspezifische Skulpturen, die in Resonanz mit dem sie umgebenden Raum treten sollen. Es geht nicht einfach um eine Platzierung, sondern um ein echtes Hinhören auf den architektonischen, landschaftlichen und symbolischen Kontext, der die Präsenz des Werks lenkt und prägt. Eine Reflexion, die sich nahtlos in Bergomis Poetik einfügt, in der nichts erzwungen wird und jede Geste aus einer tiefen Beziehung zum Raum und zu denen, die ihn durchqueren, hervorgeht.

G. Bergomi, Cubo e figure che guardano in alto, Bronze, 2023 Privatsammlung
Cubo e figure che guardano in alto, 2023, Bronze
G.Bergomi, Cronografia di un corpo, 2012, Bronze, rostfreier Stahl, Emaille 266x300x100cm, Privatsammlung
Cronografia di un corpo, 2012, Bronze, rostfreier Stahl, Emaille

Eine der tiefgründigsten Fragen, die wir uns gestellt haben, betrifft die Beziehung zwischen Bergomis Skulpturen und der Landschaft der etruskischen Küste. Die archaischen Formen, das ausgeprägte Zeitgefühl, die ständige Rückkehr zur menschlichen Figur ließen uns an eine fast natürliche Affinität zwischen seinem Werk und diesem Landstrich denken. Bergomis Antwort war klar: Auch wenn einige Werke, wie das große Terrakottabett, eine „etruskisch anmutende“ Ästhetik evozieren, die an den Sarkophag der Eheleute im Museo Nazionale Etrusco di Villa Giulia in Rom erinnert, entspringt sein schöpferischer Impuls einem anderen Ursprung.

„Der Alltag ist viel aufdringlicher als die Vergangenheit. Aber das Alltägliche liest man durch das, was man liebt. Und also auch durch die Erinnerung an die Vergangenheit.“

Gerade hier offenbart sich die tiefste Distanz zur etruskischen Kunst: Während diese geschaffen wurde, um den Tod zu feiern und ins Jenseits zu begleiten, scheinen Bergomis Werke das Gegenteil zu tun. Sie verankern das Ewige nicht im Abschied, sondern im Leben selbst, in der greifbaren Möglichkeit, flüchtige Gesten, intime Zuneigungen und alltägliche Gegenwart dauerhaft zu machen. In diesem Wechselspiel zwischen Gegenwart und Erinnerung, zwischen Intimität und Landschaft, finden seine Skulpturen ihren Ort, nicht um Geschichte zu feiern, sondern um sie mit Zurückhaltung zu bewohnen.